Ein simpler Eingriff by Yael Inokai

Ein simpler Eingriff by Yael Inokai

Autor:Yael Inokai
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Ausbeute, Ausbruch, Befreiung, Beziehung, Eingriff, Emanzipation, Familie, Frauen, Freundschaft, Geschwister, Gesundheit, Hierarchie, Intimität, Klassizimus, Krankenhaus, Krankenschwester, lesbisch, Liebe, Macht, Medizin, Misogynie, Nachkriegszeit, Norm, Patientin, Patriarchat, politisch, privat, queer, Road, Routine, Schweiz, Sexismus, Sexualität, trip, weiblich, Wohnheim
Herausgeber: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
veröffentlicht: 2022-12-15T00:00:00+00:00


9

Sie kniete vor ihrem Bett, die Ellenbogen aufgestützt. Ruhte mit der Stirn auf ihren verschränkten Händen.

So fand ich sie im Halbdunkel. Der Schnee, der draußen lag, warf kaltes Licht hinein. Ich brauchte einen Moment, bis ich ihre Umrisse richtig deuten konnte. Aber ich hatte gewusst, dass sie da war. Wir kannten uns mittlerweile gut genug, um die Anwesenheit der anderen zu spüren, bevor wir das Zimmer betraten.

Die Tür war nur angelehnt gewesen. Ich hatte sie sachte ein Stück aufgestoßen. Es war schon spät, die Nacht längst angebrochen.

Ich blinzelte, weil ich mir nicht sicher war, ob ich richtig sah. Sie flüsterte mit geschlossenen Augen. Sie bemerkte mich nicht.

Leise schloss ich die Tür wieder. Ich ging nach unten. Saß dort alleine an einem der langen Tische und nahm mein Abendessen zu mir. Ich war Zeugin von etwas Intimem geworden, intimer als ein nackter Körper, intimer als Tränen.

Ich hing meiner Verwirrung nach. Hörte den Geräuschen des Hauses zu. Dem Holz, das von der Kälte knirschte, das Rauschen in den Wänden, untrügliches Zeichen nächtlicher Toilettenbesuche. Irgendwann auch ihre Schritte auf der Treppe. Sie blieb im Türrahmen stehen.

»Komm in die Wärme«, sagte sie.

Ich war jenseits von Müdigkeit. Ich wollte mich nicht hinlegen, ich wusste, ich würde sonst die Nacht mit meinen Gedanken verbringen.

»Ich werde noch mal rausgehen.«

»Es ist furchtbar kalt.«

In den Fenstern sah man Eiskristalle, die sich ihre verästelten Wege bahnten. Ein letztes Aufbäumen des Winters. Es war schon Ende März.

»Komm mit«, sagte ich.

Wir nahmen die Räder und fuhren bis dahin, wo der asphaltierte Weg aufhörte. Wie eine schwarze Wand empfing einen der Wald üblicherweise, aber der Schnee gab ihm Konturen, machte ihn weich, einladend fast. Wir stellten die Räder ab und nahmen den Pfad, den wir auch an Heiligabend gegangen waren. Er würde uns wieder hierher zurückführen.

Wir schwiegen. Der Schnee hatte seine Decke über allen Geräuschen ausgebreitet. Nur unsere knirschenden Schritte waren zu hören, unser Atem, hin und wieder ein Knacken im Dickicht.

Viele der Schwestern fürchteten den Wald. Wenn es dunkel war und sie alleine fahren mussten, nahmen sie den großen Umweg. Es gab Geschichten, natürlich, und alle waren sie auf ihre Art schaurig. Mir machte der Wald keine Angst. Ich vertraute auf den Weg, den ich Tag für Tag fuhr, ich war mir sicher, dieses Vertraute schirmte mich.

Sarah ging voraus. Sie hielt es nie lange neben mir aus, wenn wir in Bewegung waren. Ich kannte ihren Rücken inzwischen so gut. Kannte die leicht geneigte Haltung, die er auf dem Fahrrad einnahm. Kannte den aufrechten Gang, ihren Stolz darin, den sie auch gegen ihre Müdigkeit verteidigte.

Es fing wieder zu schneien an. Erst hielt ich es für eine Täuschung, Schnee, den ein kleiner Windstoß von einem Baum gestoben hatte. Aber dann wurden die Flocken immer mehr. Still fielen sie auf den Boden, die Bäume und Sträucher. Auf Sarahs Haare. Sie streckte die Hand aus und fing ein paar der Flocken auf.

Ich hielt kurz die Luft an. Ich wollte nicht die Wolken meines gefrorenen Atems sehen. Ich wollte diese Haare anschauen, und wie der Schnee sie langsam zu seiner Landschaft machte.



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